Warum Kopfhörer und ein Pulsmesser manchmal Wunder bewirken…
Der Frühlingswind strich behutsam über die geschmeidigen Zweige der jungen Birke.
Mutter Sonne ermutigte sie mit sanften Strahlen ihr grünes Blattkleid anzulegen. Selbst der Regen war in diesem Jahr besonders sanft. Überall erwachte das frische Grün aus dem Winterschlaf. Die Vögel bauten ihre Nester in den luftigen Höhen der gastlichen Kronen von Buche und Linde. Ihr fröhliches Gezwitscher erfüllte die Luft. Ja, es war nicht zu übersehen und nicht zu überhören, der Frühling war da!
In dieser Zeit ging eine junge Frau durch den Wald, ganz in ihre Gedanken versunken, die alles andere als frühlingshaft waren. Die junge Frau war schwanger. Doch sie konnte sich darüber nicht freuen. Das Kind passte so gar nicht zu dem, was sie vom Leben erwartete und erhoffte. Das Kind machte ihr Angst. Es wuchs in ihrem Bauch heran und sie hatte keinerlei Einfluss darauf. Es geschah einfach. Ihr Leben stand auf dem Kopf. So empfand sie es zumindest. Nichts hatte sie mehr im Griff. Gerade begann ihr letztes Studienjahr, die Prüfungen würden in die Zeit der Geburt fallen… Noch vor drei Monaten war alles so klar gewesen. Das Studium machte ihr Spaß. Die Chancen, es mit „Auszeichnung“ abzuschließen standen gut und eigentlich wollte sie mit ihrem Mann für drei Jahre nach Amerika gehen. Alles war schon jahrelang geplant, der Forschungsauftrag, das Stipendium, selbst die kleine Wohnung gleich neben dem Institut …
Nein, die junge Frau wollte das Kind nicht, jetzt nicht! Sie wollte ihr Leben so leben, wie sie es sich vorgenommen hatte.
Die junge Frau blieb stehen und schloss die Augen. Die Sonne schien schon angenehm warm zwischen den Bäumen hindurch. Ein sanftgrünes Licht lag über dem Waldweg. Der Wind strich über ihre Haut und trug den Duft von Waldmeister herüber. „Herrlich“, dachte sie.
Sie genoss den kleinen Spaziergang. Überall gab es etwas zu entdecken.
Das Scharbockskraut war schon fast verblüht. Aber der Lerchensporn blühte noch und auch die Buschwindröschen.
Das eifrige Klopfen eines Spechts schallte weithin durch den Wald. In den Zweigen der jungen Birke hüpfte ein Meisenpärchen. Als die junge Frau den Vögeln mit ihren Blicken folgte, stellte sie fest, dass sie dabei waren, ein Nest zu bauen. Immer wieder flogen sie mit Gräsern und kleinen Zweigen auf die höheren Zweige der Birke. Einmal hatte eine der Meisen sogar einen dicken Wollfaden im Schnabel. „Wo der wohl herkommt?“, fragte sich die junge Frau. Sie war von dem Schauspiel so gebannt, das sie ihren Kummer ganz vergaß.
Sie genoss es, am Stamm der jungen Birke gelehnt, das Treiben der jungen Eltern zu beobachten. „Die jungen Eltern!“, fuhr es ihr durch den Kopf. Da war sie wieder, ihre Wut. Eigentlich wollten sie ja Kinder, aber doch nicht jetzt! Die Zeit war wirklich ungünstig, vielleicht in drei bis vier Jahren. Wenn sie etwas erreicht hatte. Ihr Gesicht verdüsterte sich.
Sie sah einen jungen Mann kommen. Mit Kopfhören im Ohr joggte er, den Blick starr geradeaus gerichtet. Die junge Frau beobachtet ihn. Der Mann schien seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Jetzt schaute er auf seinen Pulsmesser, nickte kurz und lief etwas schneller, geradewegs auf sie zu. Der Mann stolperte und hätte die junge Frau beinahe mitgerissen. Aber statt sich zu entschuldigen, hob er nur die Hand. „Passt schon“, sagte er und joggte weiter. Die Frau starrte ihn fassungslos hinterher. „Passt schon! Läuft mit Kopfhören durch den Wald, nimmt nichts wahr und nun tut er auch noch so, als wäre er wegen mir gestolpert. So ein Ignorant!“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Wie blöd muss man denn sein, mit Kopfhören durch den Wald zu joggen. Der hat in seinem Leben wirklich nichts kapiert, rein gar nichts!“, dachte die junge Frau. Sie schaute nach dem Meisenpärchen. Plötzlich hielt sie inne. Einen Augenblick stand sie regungslos. Dann aber fing sie an zu lachen. Sie lachte so sehr, dass ihr die Tränen in die Augen traten.
Dann sagte sie laut: „ Wie blöd muss ich sein, dass ich mit Kopfhören durch mein Leben laufe! Und mit einem Pulsmesser“, fügte sie hinzu.
Sie stand an der jungen Birke und lachte. Um sie herum blühten und dufteten die Blumen, ein sanfter Wind strich durch das Blattwerk und hoch oben in den Zweigen der Birke baute das Meisenpärchen sein Nest.
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