Vom Mann, der sich fürchtete ein Mann zu sein
Ein Mann im mittleren Alter, war seines Lebens überdrüssig. Nichts ging ihm mehr von der Hand. Alles kostete ihn unendliche Mühe und jedes Mal fragte er sich im Stillen, wofür das Ganze? Dort wo es für ihn früher zu kämpfen galt, wo es ihm Spaß machte Pläne zu schmieden, Ziele zu erreichen und viel Geld zu verdienen, gähnte jetzt ein bodenloses Loch. So tief und so dunkel, dass er fürchtete hineinzusehen.
Doch was sollte er tun? Schließlich hatte er eine Familie, trug Verantwortung und wollte in jederlei Hinsicht ein guter Vater und Ehemann sein.
Doch die Sorgen um den nächsten Tag erdrückten ihn und er war zu nichts anderen mehr fähig, als an all das Geld zu denken, das es noch zu verdienen galt.
Früher ging ihm doch das Geldverdienen leicht von der Hand und jetzt? Der Mann seufzte. Es war alles so kompliziert geworden und er hatte kein rechtes Zutrauen mehr zu sich. Wenn er nun versagte? Der Mann schüttelte sich und wischte die dunklen Gedanken schnell beiseite.
Nein, das durfte nicht geschehen. Er wollte es verhindern, mit all seiner Kraft.
Aber gerade an Kraft fehlte es ihm. Sein Herz raste und stolperte. Oft lag er des Nachts stundenlang wach, grübelte und die Angst um die Existenz schnürte ihm die Kehle zu. Dann rang er nach Luft und fühlte sich hundeelend.
Das ging so eine Zeit.
Jeder Arzt hätte den Mann krankgeschrieben und ihn in eine Klinik geschickt.
Aber obwohl sich der Mann eine Auszeit sehnlichst wünschte, hatte er auch Angst davor.
Das gähnende schwarze Loch in das er auf keinen Fall schauen wollte, das war da. Immer.
Es würde auch nicht in einer Klinik verschwinden, oder?
Eines Tages ging der Mann spazieren. Das heißt, er setzte seine Füße, einen vor den anderen, doch seine Gedanken kreisten um das dunkle, gähnend schwarze Loch. „Ein Loch so tief und dunkel, wie der Schlund eines unheimlichen Wesens“, so dachte der Mann.
Er nahm die klare, kühle Herbstluft nicht wahr, auch nicht das goldgelbe Laub, das unter seinen Schritten leise raschelte. Er hatte keinen Blick für das flammende Orange, das Goldgelb und das satte Rot, in die der Herbst Bäume, Büsche und Sträucher tauchte.
Wie sollte er auch? In seinen Gedanken gab es kein Feuerwerk an Farben.
„Wie im Nebel. Es ist alles so weit weg “, pflegte er manchmal seiner Frau zu sagen.
Von der gähnenden Leere, dem schwarzen Loch erzählter er ihr nichts.
So ging der Mann also den kleinen Weg zum Wald empor. Es war noch früh am Morgen. Niemand begegnete ihm. Es war so still. Ein Vogel flog auf, ab und an fiel eine Eichel zu Boden oder schwebte ein Blatt anmutig auf den Weg.
Plötzlich schreckte der Mann aus seinen Gedanken. Vor ihm auf den Weg stand eine alte, hutzelige Frau.
Die Zeit hatte tiefe Furchen in ihr Gesicht geschnitten und ihre Gestalt gebeugt. Doch die Augen der Alten leuchteten wach und klar, wie die eines jungen Mädchens. „Guten Morgen“, grüßte sie den Mann mit einer erstaunlich munteren Stimme. „Guten Morgen“, antwortete der Mann, noch ganz verwirrt über ihr plötzliches Erscheinen.
„Wohin des Wegs?“, fragte die Alte freundlich. „Das geht dich gar nichts an“, dachte der Mann, den diese einfache Frage zutiefst erschreckte. Doch statt dessen sagte er: „Ein bisschen spazieren. Kann ja nicht schaden. Es regnet gerade nicht.“ Die Alte nickte. Dann seufzte sie.
„Er kapiert es einfach nicht!“
Der Mann glaubte sich verhört zu haben. Die Frau erschien ihm höchst sonderbar. Er räusperte sich und wollte weiter gehen. Doch die Alte befahl ziemlich unwirsch: „Nun will er schon wieder abhauen. Bleib stehen, sofort! Nun habe ich mir schon die Mühe gemacht zu dir zu kommen und du hast nichts Besseres zu tun als schon wieder abzuhauen. Bleib sofort stehen! Es reicht. Ich kann dein Gejammer nicht mehr mit anhören! Wenn es mit gelänge, mich zu fürchten, dann vor deinem Gejammere!“ Der Mann wich unwillkürlich ein Stück zurück.
„Die Frau ist verrückt! Komplett verrückt!“
„Jetzt hält er mich auch noch für verrückt. Das passt zu ihm.“ Die Alte schnaubte!
„Wach endlich auf! Wie lange willst Du noch wie ein Schlafwandler durch das Leben laufen, ohne Sinn und Verstand! Das ist eine Beleidigung für das Leben!“ Der Mann wusste nicht ob er lachen oder ärgerlich werden sollte.
Die Situation war wirklich sonderbar. Da stand er am frühen Morgen auf einem Wiesenweg und ließ sich wie ein kleiner Junge von einer verrückten Alten beschimpfen.
Aber wie kam er da wieder heraus? Der Mann hatte ein sanftes Wesen und es war nicht seine Art, andere Menschen zu beschimpfen, auch wenn sie noch so sonderbar waren. Also nickte er freundlich, drehte sich um und ging ein paar Schritte weiter.
Da lachte die Alte und ihr Lachen hallte in den Bäumen wieder. „Angsthase, dummer! Schau mich an!“ Plötzlich stand die Frau unmittelbar vor ihm und starrte ihm direkt in die Augen. „Sieh mich an!“, befahl sie abermals. Der Mann kam nicht umhin in ihre Augen zu sehen. Und da war es, das tiefe, dunkle Loch! So schwarz und groß, wie der Schlund eines
unheimlichen Wesens. Der Mann schrie auf. Doch das Loch wurde größer und größer und es geschah das, wovor er sich sein ganzes Leben gefürchtet hatte. Er fiel hinein.
Als er wieder zu sich kam, war die Alte verschwunden. Er lag auf dem feuchten Weg und roch den Duft des Herbstlaubs unter sich. Der Mann stand auf. Noch ganz beklommen, klaubte er ein paar Blätter und Grashalme von seinen Sachen. Er musste gefallen sein…
Gefallen! Wieder sah er die Augen der Alten, das dunkle Loch… so tief und doch… so schön!
Der Mann atmete die frische Luft ein. „So eine schöne klare Luft“, freute er sich, „…und diese herrlichen Farben.“ Er berührte die sattroten Beeren an dem Strauch direkt vor ihm. Majestätisch prangten sie in dem goldgelben Laub des weitverzweigten Strauchs.
Das Herz des Mannes klopfte vor Freude, laut und kräftig. Es schlug gleichmäßig und zuversichtlich.
Der Mann lauschte und atmete tief ein. Jetzt hatte sein Herz Platz, soviel Platz. Mit jedem Atemzug den er tat, fühlte er sich leichter und glücklicher.
Er pflückte ein paar von den Beeren und steckte sie in die Tasche.
„Iss sie, jetzt, sofort! Auf was willst du warten?“, hörte er eine vertraute Stimme. Dieses Mal erschrak der Mann nicht. Er lachte, schüttelte den Kopf und ließ sich die Beeren schmecken. Na endlich!
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