Von der Gundelrebe oder über das Geheimnis des Lachens
Die immer fröhliche Gundelrebe wuchs am Fuße eines alten Torbogens. Hier, an diesem alten feuchten Gemäuer fühlte sich die Gundelrebe besonders wohl. Neugierig beobachtete sie das geschäftige Treiben der Kaufleute, die mit ihren vollbeladenen Pferdekarren in die Stadt fuhren. Die Gundelrebe liebte das Leben, bunt und voller Schönheit und doch hielt sie sich lieber im Hintergrund. Mochte doch die stolze Rose die Blicke auf sich lenken… oder die feurige Türkenbundlilie… was kümmerte sie’s .
Eines Tages aber humpelte ein alter Mann, dem die Last vieler entbehrungsreicher Jahre anzusehen war, auf der staubigen Straße entlang. Immer wieder hielt er inne, denn auf dem holprigen Kopfsteinpflaster fiel ihm das Laufen noch schwerer.
Müde setzte er sich in den Schatten des alten Torbogens und wischte sich erschöpft den Schweiß von der Stirn. Die Gundelrebe war nicht nur eine fröhliche Pflanze die das Leben liebte, sie hatte auch ein großes Herz. So dauerte sie der Alte und als ein stiller Wind über die Wiese strich, ließ sie ihre kleinen herzförmigen Blätter wie von ungefähr über die Schuhe des alten Mannes streifen. Nicht, das er diese Berührung bemerkt hätte, wie sollte er auch? Aber nach dem die Gundelrebe das Spiel mehrmals wiederholt hatte, wurde der Alte doch auf die Bewegung vor seinen Füßen aufmerksam. „Nun, was bist du für eine zarte Pflanze, dass dich der leiseste Windhauch so bewegt?“, wunderte sich der alte Mann. Und betrachtete sich das unscheinbare Kraut genauer. „Hübsch bist du!“, brummte er und ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht. Die Gundelrebe hat das Lächeln im Gesicht des Alten wohl bemerkt. Sie liebte das Lachen, das die Menschen soviel schöner machte und sie erblühen ließ wie die schönste aller Blüten. Überhaupt wunderte es die Gundelrebe, wie wenig die Menschen lachten. Wussten sie denn nichts über das Geheimnis des Lachens?
Der Alte ließ seine Hand über die tiefgrünen Blätter der Pflanze streifen. Dann pflückte er sich ein Blatt und roch daran. Ein würziger Duft nach Minze und Erde stieg ihm in die Nase, kraftvoll und erfrischend. „Oho“, lachte der Alte, „von wegen zartes Pflänzlein!“
Dieses Mal blieb sein Lächeln länger im Gesicht, lange genug damit er es selber wahrnahm.
Der Alte streckte sich behaglich und seine alten Knochen fühlten sich nicht mehr so steif und ungelenk an. Erst jetzt nahm er war, was für ein hübsches Plätzchen er sich für seine Rast ausgesucht hatte. Die winzige Wiese am Rande des Torbogens war übersäht mit unzähligen Blütentupfern. Gänseblümchen, Hopfenklee, Fingerkraut und Gundelrebe wuchsen dicht beieinander und bildeten ein lebendiges farbenprächtiges Muster. Im Schatten des Torbogens war es angenehm kühl. Eben noch, auf dem staubigen Weg hatte der Alte wie so oft voller Bitterkeit an Vergangenes, Versäumtes und Unwiederbringliches in seinem Leben gedacht. Das Leben war ihm eine Bürde, die er nur noch ungern trug.
Doch jetzt auf dieser winzigen Wiese fühlte er sich so lebendig und wach, wie lange nicht mehr. Plötzlich verspürte er den Wunsch seine Schuhe auszuziehen. Der Alte hielt inne und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Die Wiese fühlte sich so weich und angenehm kühl an. Es war einfach wundervoll! Dann fing der Alte an zu lachen, er lachte und lachte. Manche Menschen, die durch das Tor in die Stadt zogen, bemerkten den barfüßigen Alten und schüttelten den Kopf über dessen Torheit. Andere wurden von seinem Lachen angesteckt. Für einen kurzen Augenblick verschwand für sie die staubige Straße mit ihrem geschäftigem Treiben und den vielen Geschichten, die sie erzählen konnte. Sie lachten und brauchten keinen Grund dafür. Sie waren Glück - lich.
Der Gundelrebe gefiel das wohl. Vielleicht entdeckten die Menschen ja doch das Geheimnis des Lachens. Wer weiß?
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