Das Geheimnis des Gänseblümchens
Eine Frau war sehr müde, so müde. Ihre Krankheit zog sich schon über Jahre dahin. Manchmal gab es Hoffnung, manchmal verschwand die Hoffnung in ein nicht enden wollendes Grau. Es waren nicht mehr viele Freunde übrig geblieben. Sie waren am Ufer ihrer Hilflosigkeit und dem Spiegelbild ihrer eigenen Vergänglichkeit gestrandet.
Die Frau saß auf einer Bank im Kurpark und ruhte sich aus. Zum Glück war der Winter vorbei. Die ersten Sonnenstrahlen lächelten schon so zuversichtlich, als könnten sie den Sommer ahnen, der noch in den Knospen der Blüten und Blätter schlummerte.
Die Frau streckte sich und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Wie gut die Sonne tat und die Wärme! Ein kleines Kind setzte sich zu ihr auf die Parkbank und baumelte mit den Beinen.
Eine Zeitlang war es damit zufrieden. Doch dann sah es die Frau an und sagte: „Spiel mit mir! Es ist doch so schönes Wetter! Kannst Du Fangen spielen?“ Die Frau war verblüfft. Erst wollte sie freundlich ablehnen. Dann aber nickte sie. „Warum nicht! Spielen wir Fangen!“
Die kleine Bank stand am Rand einer schönen Wiese. Krokusse, Ehrenpreis und unzählige Gänseblümchen belebten die Wiese wie fröhliche Pinseltupfer.
Das Kind war schon aufgesprungen. Jetzt sauste es über die Wiese und rief: „Komm! Ich bin bestimmt schneller als du.“ - „Das werden wir sehen!“, lachte die Frau und lief dem Kind hinterher. Das Kind spürte, dass die Frau rasch erschöpft war, es verlangsamte seine Schritte und bückte sich. „Schau einmal, was für schöne Blumen!“ Es zog die immer noch schwer atmende Frau zu sich nach unten. Strahlend hielt es der Frau ein Gänseblümchen entgegen. „Ist es nicht schön?“ Rasch begann es einen kleinen Strauß zu pflücken. Die Frau setzte sich neben dem Kind auf die Wiese. Der Boden war noch etwas kühl. Also kramte sie einen Pullover aus ihrer Tasche unter legte ihn unter.
„Weißt du“, kommentierte sie das Tun des Kindes, „früher haben wir uns Kränze aus Gänseblümchen geflochten. Soll ich dir zeigen wie das geht?“ - „Ja, bitte!“ das Kind rutschte gespannt näher und gab der Frau sein Blumensträußlein. „Hm“, machte die Frau, „mal sehen, ob ich das noch kann.“ Sie nahm drei Blumen, überlegte kurz und begann sie zusammenzu-flechten. „Ich glaube, ich kann es noch!“, freute sich die Frau. Die Arbeit ging ihr rasch von der Hand. Die ganze Zeit über musste sie lächeln und summte vor sich hin.
Als sie fertig war, gab sie dem Kind ihren Kranz. „Schau der ist für dich!“ - „Wie eine Krone sieht er aus!“ lachte das Kind und setzte sich den Kranz behutsam auf.
„Jetzt du!“, entschied das Kind, nahm drei Gänseblumen und begann sie erstaunlich geschickt miteinander zu verbinden. Mit etwas Hilfe hatte das Kind eine kleine Krone geflochten. Sie hielt sie in den Händen, wie ein kostbares Ding und strahlte: „Jetzt bist auch du eine Königin! Wie schön du aussiehst!“ Der Frau stockte der Atem. „Eine Königin“, dachte sie. „So schön wie eine Königin!“ Sie wusste nicht, wann sie sich das letzte Mal als schön empfunden hatte. In der letzten Zeit vermied sie es, in den Spiegel zu schauen. Es verunsicherte sie nur.
„Mama“, wurde sie aus ihren Gedanken aufgeschreckt, „Mama“, sieh einmal ich habe eine Krone und meine Freundin auch!“ Eine junge Frau kam auf die beiden zu. Sie hatte ein buntes Kopftuch auf und winkte. Das Kind lief ihr entgegen und ließ sich übermütig in ihre Arme fallen. Die Frau hob es hoch: „Na meine kleine Königin, ich sehe die Wartezeit ist dir nicht lang geworden! Danke, dass sie sich um meine Kleine gekümmert haben!“ Sie streckte der Frau die Hand entgegen: „Ich heiße Lisa und das ist meine Tochter Anna. Die Frau nahm ihre Hand und lächelte: „Ich heiße Hilde!“ - „Ist das Seide?“, fragte jetzt Lisa und zeigte auf Hildes Kopftuch. „Dieses Himmelblau steht dir ganz wunderbar. Es passt so gut zu deiner Augenfarbe.“
„Danke!“, sagte Hilde. Dann setzten sich beide Frauen auf die Parkbank, ließen sich von der Sonne wärmen, schauten dem Spiel des Kindes zu und öffneten ihr Herz füreinander, so, wie es das Gänseblümchen tut, wenn wir es ihm erlauben.
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