Vom bärenstarken Bärlauch oder warum der Bärlauch interessanter als Computerspiele sein kann…
Die erste Frühlingssonne schob ihre Strahlen durch das Gewirr der noch kahlen Buchenzweige. Sie kitzelte die zartgrünen Spitzen der Bärlauchblätter. Dadurch ermutigt, bohrten sie sich durch das graubraune Winterlaub und reckten sich selbstbewusst der Sonne entgegen.
Langsam erwachte der Wald und mit ihnen die Tiere.
In einer gemütlich warmen Höhle streckte sich der große Bär und gähnte herzhaft. „Uhaa“, machte er und trotte nach draußen. Es war sein erster Winterschlaf in der Freiheit gewesen. Zufrieden zog er den Duft des Frühlingswaldes durch seine Nüstern. Dann trottete er los. Erst wetzte er seine Krallen an einer alten, vom Sturm gefällten Eiche. Dann kratzte er deren Rinde beiseite und leckte geschickt die Larven von deren Innenseite. „Hmm“, brummte er und spitzte die Ohren. Plätscherte da nicht ein Bächlein vor sich hin? Der Bär hatte nach dem langen Winterschlaf Durst. Gierig trollte er sich in Richtung des Bächleins.
Zur gleichen Zeit ging ein Mann mit seinem Sohn in den Wald. Der Sohn machte kein Hehl daraus, dass ihm der kleine Ausflug so gar nicht gefiel.
Lieber wäre er zu Hause geblieben. Der Vater hatte ihn bei seinem Lieblingscomputerspiel gestört. Und außerdem, was sollte er hier in diesem langweiligen Wald? Nichts als kahle Bäume und dürres Winterlaub! Außerdem hasste er Spazierengehen.
Zwar schien die Sonne aufmunternd durch die Zweige, aber ein kalter Wind erinnerte immer noch an die eisigen Tage des Winters. Der Junge war lange krank gewesen. Obwohl er in einer warmen Daunenjacke steckte, fröstelte er. „ Muss das sein“, maulte er. „Das ist doch nur langweilig!“ Er dachte an sein Computerspiel und daran, wie er den Spaziergang abkürzen könnte. „Mir ist kalt und ich bin so müde“, versuchte er es. Der Vater ließ sich nicht beirren. „Komm, die frische Luft wird dir gut tun. Und außerdem ist es im Wald nie langweilig!“ „Für dich vielleicht nicht. Aber ich sehe nur kahle Bäume und trockenes Laub. Das ist doch hässlich und frische Luft kann ich auch bekommen, wenn ich zu Hause das Fenster aufmache!“ Der Junge war stehen geblieben. Demonstrativ kickte er einen Fichtenzapfen zur Seite. Doch ein Blick in das Gesicht seines Vaters verriet ihm, dass es keinen Zweck hatte, mit ihm zu diskutieren. Dieses Mal schien sein Vater fest entschlossen zu sein, sich nicht umstimmen zu lassen. Ganz im Gegenteil, der Vater schlug den Weg in den Auewald ein.
Der Junge verdrehte die Augen und stöhnte: „Na prima, den langen Weg auch noch! Papa, muss das sein? Ich fühle mich noch ganz schwach!“ Das war noch nicht einmal gelogen. Es war erst ein paar Tage her, dass er wieder aufstehen konnte. Der Vater nickte: „Eben!“
In diesem Augenblick hörten sie ein lautes Knacken. Erschrocken fuhr der Junge herum.
Wüsste er es nicht besser, er hätte schwören können, einen Bären gesehen zu haben. Aber ein Bär in ihrem Wald? Ganz ausgeschlossen. Trotzdem fragte er seinen Vater: „Papa, gibt es bei uns Bären?“ „ Nicht, dass ich wüsste. In Süddeutschland vielleicht. Aber nicht bei uns.
„Bären gibt es hier nur im Wildpark.“ - „Sind Bären gefährlich?“, wollte der Junge weiter wissen.
„Nun, es sind Raubtiere, gewiss. Aber wenn man sie in Ruhe lässt, lassen sie uns auch in Ruhe.“ Wieder hörten sie ein lautes Knacken. Dieses Mal schaute sich auch der Vater um und rief: „Meine Güte, ich glaube, da war ein Hirsch oder so was. Jedenfalls ein ziemlich großes Tier! Und du sagst, im Wald sei es langweilig!“
Nicht, dass der Vater wirklich ein Tier gesehen hätte. Doch er wollte, dass der Junge aufhörte, so maulig durch den Wald zu laufen.
Der Vater flüsterte: „Halt dich dicht hinter mir, vielleicht sind es auch Wildschweine. Da müssen wir aufpassen!“
So leise wie möglich bahnten sie sich einen Weg durch das Unterholz. Zuweilen hörten sie einen Vogel auffliegen, aufgeschreckt durch das ziemlich laute Knacken der Zweige unter ihren ungeübten Schritten. „Wir müssen leiser sein, sonst verscheuchen wir die Tiere“, raunte der Vater. Der Junge nickte und kroch fast lautlos unter einem tief hängenden Ast hindurch. „Super!“, lobte ihn der Vater.
Plötzlich knackte es unmittelbar in ihrer Nähe und sie hörten ein tiefes Brummen.
„Das ist kein Hirsch!“, flüsterte der Junge erschrocken. „Das ist bestimmt ein Bär!“
„Ein Bär“, der Vater schüttelte den Kopf. „Wo soll ein Bär herkommen?“ Und doch war dem Vater recht unbehaglich zumute. Das laute, dunkle Brummen hatte auch er gehört.
„Vielleicht ist er aus dem Zoo ausgebrochen oder aus dem Zirkus.“ Der Junge sah den Vater fragend an. „Was nun, weiterpirschen?“ Der Vater flüsterte: „Bleib hinter mir!“ Dann schob er sich noch ein kleines Stücken nach vorn. Abermals flüsterte der Junge: „Papa, riechst du das? Riechen so Bären?“ Der Vater schnupperte. Dann schüttelte er den Kopf: „Nein mein Junge, so riecht Bärlauch! Den wollte ich heute mit dir finden. Der Bärlauch ist genau die richtige Pflanze, um nach einer langen Krankheit Kraft zu bekommen und“, er fuhr seinem Jungen durch das Haar, „ und die richtige Pflanze für Abenteurer. Der Name sagt es ja schon. Bärlauch - der macht bärenstark!“ Der Junge murrte: „Papa, ich bin doch kein kleiner Junge mehr. Bärenstark, weil die Pflanze Bärlauch heißt…Ha…ha!“
„Und doch ist es so“, widersprach der Vater. „Die erste Frühlingsspeise der Bären ist häufig der Bärlauch. Er hat so viele Vitamine und Spurenelemente, dass der Bär nach dem langen Winterschlaf genau diese Pflanze am liebsten isst. Außerdem regt sie den Stoffwechsel des Bären an. Aus diesem Grund heißt der Bärlauch eben Bärlauch und aus diesem Grund macht er Bären stark.“ „Woher weißt du das alles?“, wunderte sich der Junge. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sich sein Vater für Wildkräuter interessierte. „Als Junge spielte ich mit meinen Freunden fast jeden Tag im Wald. Ich kannte mich hier bestens aus. Wir aßen auch oft Wildkräuter und Beeren. Weißt du, dein Großvater war da ziemlich fit! Von ihm habe ich eine Menge gelernt!“
Wieder war ein lautes Brummen zu hören. Der Vater gab dem Jungen ein Zeichen, dicht hinter ihm zu bleiben. Dann schob er vorsichtig die Zweige des Gestrüpps auseinander. Nicht vorsichtig genug. Denn der große braune Bär, der geschickt ein Bärlauchblatt nach dem anderen mit seinen Lippen abzupfte, horchte auf. Er hob seinen Kopf und schaute direkt in die Richtung des Gestrüpps. Dann schüttelte er sich kurz und trottete gemächlich in die andere Richtung davon.
„Ein Bär! Das war ein richtiger Bär!“, flüsterte der Junge erschrocken. „Ja! Das gibt´s doch nicht! Das glaubt uns keiner!“ Eine Weile blieben die beiden noch hinter dem sicheren Gestrüpp. Dann aber traten sie auf die kleine Bärlauchlichtung. „Das ist nicht nur eine Bärlauchlichtung, das ist eine Bärenlichtung“, sagte der Junge. Immer noch mit klopfendem Herzen aß er seinen ersten Bärlauch und fand ihn ziemlich scharf, aber genauso schmackhaft.
„Am besten wir sagen keinem, dass wir einen Bären gesehen haben“, überlegte der Junge. „Sonst schießen die Jäger ihn ab, genauso wie den Bären in Bayern.“ Der Vater nickte zustimmend. „Du hast Recht. Ich finde der Bär hat eine Chance verdient. Hoffentlich macht er keine Dummheiten.“ Dann sammelten sie eine große Handvoll Bärlauch für zu Hause. „Heute gibt es Bärlauchnudeln“, freute sich der Vater. „Du wirst sehen, wenn du jeden Tag einige Blätter isst, bist du bald wieder vollkommen gesund und stark.“ - „Ja, bärenstark!“, lachte der Sohn. Dann klopfte er seinem Vater anerkennend auf die Schulter. „War doch keine so blöde Idee, in den Wald zu gehen. Das können wir jetzt öfters machen…“
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