Das Wunder der Mistel oder wie der Alte den Stern von Bethlehem entdeckte
In einem gottverlassenen Nest, am Ende der Welt, lebte ein alter Mann, der der Welt gram war.
In einem schon recht verfallenen Häuschen hatte er sein notdürftiges Auskommen.
Im Sommer kam er ganz gut zurecht. Doch jetzt im Winter war es im Haus kalt und zugig. Seine vielen Zipperlein plagten ihn mehr denn je.
So stöhnte der Alte recht oft und fluchte viel.
Zur Weihnachtszeit schlug das Wetter plötzlich um. Hatte der späte November frostige, sternenklare Nächte gebracht und des Tags vereinzelt sanft fallende Schneeflocken, so tobte jetzt ein heftiger Sturm. Er rüttelte und zauste die Bäume und fuhr jaulend und stöhnend durch den Kamin, als wären alle Dämonen der Unterwelt hinter ihm her.
Es war schon zum Fürchten. Selbst das Feuer duckte sich im Herd und wollte nicht recht brennen. Auch als der Alte es mit Kiefernspänen und Tannenzapfen verwöhnte.
„Es ist eine Hatz…“, stöhnte der Alte. Mühsam drückte er seinen schmerzenden Rücken durch. Heute taten ihm seine Gelenke und alten Knochen besonders weh.
Er schlurfte zum Tisch und nahm die alte, abgewetzte Bibel vom Küchenbrett.
Seit unzähligen Jahren las er zur Weihnachtszeit in ihr. Obwohl er nicht besonders gläubig war, tröstete ihn die Geschichte um Jesu Geburt. Vor allem die Geschichte vom leuchtenden Stern, der den Hirten den Weg nach Bethlehem wies, las er immer und immer wieder.
So ein Stern, leuchtend hell….
Ja, er ertappte sich dabei, in besonders sternklaren Nächten nach draußen zu gehen und nach diesem einen hellen Stern Ausschau zu halten.
Doch jenen besonderen Stern, das Wunder der Weihnacht, hatte er noch nicht erblicken dürfen.
Unzählige Sternenbilder hatte er schon gesehen und viele kannte er mit Namen. Natürlich gab es Sterne, die viel heller leuchteten als andere, und er konnte Stunden damit zubringen, ihr geheimnisvolles Flimmern zu beobachten. Doch so einen Stern wie ihn die Hirten von Bethlehem gesehen hatten, nein, so einer war nie dabei. „Diesen Stern“, so war sich der Alte sicher, „würde ich sofort erkennen. Er würde so hell leuchten, dass er den Nachthimmel in strahlendes, weißes Licht taucht. So hell, dass jegliche Dunkelheit weichen muss.
Ja, genauso würde es sein.“
Der Alte schaute aus dem Fenster. Doch durch das Fenster starrte nur die tiefschwarze Nacht.
Dann begann es zu regnen und bald darauf klopften eisige Hagelkörner wie kleine Kieselsteine gegen die Scheiben. Das Brausen des Sturmes verwandelte sich in ein unbändiges Fauchen, wie das einer uralten Kreatur. „So ein Unwetter!“. Der Mann zog seine Strickjacke fester. Und obwohl er selten dankbar war, seufzte er doch erleichtert, ob seines sicheren Hauses.
Plötzlich klopfte es zaghaft an die Tür. Erst dachte der Alte, es wären die Hagelkörner oder die Zweige der alten Birke, die gegen die Tür schlugen. Doch als es abermals jetzt beharrlicher klopfte, stand er auf und ging zur Tür. „Wer in Gottes Namen schleicht bei diesem Unwetter hier draußen herum?“ Dem Alten war es nicht wohl in seiner Haut. Erst vor kurzem hatte er von Dieben gehört, die in der Nähe ihr Unwesen trieben. Wieder klopfte es. Jetzt klang es fast flehend. Zögernd öffnete der Alte. Er musste alle Kraft aufbieten, dass der Sturm ihm nicht die Tür aus den Angeln riss.
Vor ihm stand zittern mit weißen Lippen und bis auf die Haut durchnässt ein kleines Kind.
In der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war.
Er zog das Kind rasch in die Stube und schloss eilends die Tür. „Lieber Gott, was machst du denn so mutterseelenalleine da draußen?“ Der Alte war nicht gerade ein Menschenfreund. Aber das vor Nässe und Kälte zitternde Kind rührte ihn … und dessen Augen! Was hatte das Kind für Augen! „So hell und strahlend… wie Sterne!“, huschte es durch seinen Kopf.
Der Alte schallte sich im Stillen einen rührseligen Esel. Dann schob er dem Kind ein Handtuch zu. „Komm, trockne dich ab, du tropfst ja die ganze Stube nass!“ Ein dankbares Lächeln huschte über das Gesicht des Kindes. Dem Alten traten die Tränen in die Augen. Wieder schallt er sich: „Was ist bloß los mit dir, wirst du auf deine alten Tage noch sentimental? Das ist doch nur ein Kind. Wer weiß, was es auf dem Kerbholz hat.
Vielleicht ist es von zu Hause ausgerissen?“
Doch trotzdem zog er trockene Sachen und eine warme Decke aus seinem Kleiderschrank.
„Nimm das, sonst wirst du noch krank!“ Der Alte reichte sie dem Kind und schlurfte zum Herd. „Ich koch dir einen heißen Tee. Ein bisschen Suppe ist auch noch übrig. Du hast doch Hunger, oder?“ Das Kind nickte. Der Alte schluckte: „Woher kommen nur all die Tränen?“ Er beugte sich rasch über den Topf, um seine Tränen zu verbergen.
Viel länger als nötig rührte er in der Suppe. Als er fertig war, hatte das Kind sich umgezogen und saß schon am Tisch. Der Alte füllte dessen Teller randvoll und legte noch ein Stück gutes Brot oben auf. Das Kind strahlte. Während das Kind aß, war es still. So still und so behaglich warm. Der Sturm hatte nachgelassen und sein Fauchen war nur noch ein sanftes Gemurmel.
Das Hagelgewitter war verklungen und die Wolkenberge gaben den Blick auf ein Stückchen Sternenhimmel frei. Endlich prasselte das Feuer still und ruhig im Herd. Der Alte musste unentwegt auf das Kind schauen. Es schien ihm das Schönste zu sein, was er je erblickt hatte. Er saß ganz still, bis das Kind fertig gegessen hatte.
„Danke“, sagte das Kind und als es den Alten dieses mal ansah, verwandelte sich das Tränenmeer des Alten in ein tiefes, stilles Glücksgefühl. So still und grenzenlos wie der nächtliche Sternenhimmel, den er so gern beobachtete.
„Hab dank für alles!“. Das Kind nahm die Hand des Alten. Dann ging es leise zur Tür und schloss sie hinter sich.
Der Alte stand noch lange still und glücksbeseelt. Und glücksbeseelt sollte er bleiben, das Leben lang. Denn er hatte seinen Stern gefunden, hell und strahlend, tief in sich.
Liebe Freunde,
Ihnen und Euch allen wünsche ich eine stille, helle Weihnacht und ein wahrhaft glückliches neues Jahr. So glücklich und hell wie wir es uns nur selbst zu gestalten vermögen.
Ihre/ Eure Antara Raiy Frei
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