Vom Schloss, das erblühte
In einem dunklen, unwirtlichen Schloss lebte eine Frau, deren Mann in den Krieg gezogen war. Beide galten sie als hartherzig und unnahbar. Jetzt, da die Frau allein war, stöhnte die Dienerschaft nur um so mehr unter ihren Launen. Nichts konnten sie ihr recht machen, an allem hatte sie etwas auszusetzen und nie fand sie ein gutes Wort. Ihr schmaler Mund war noch schmaler geworden und ihre Augen blickten grau und eisig.
Eines Tages ging die Frau im Schlossgarten spazieren. Der Nachmittag war regengrau, so wie
es die ganze Erscheinung der einsamen Herrin war. Sie ließ ihren Blick über den Garten schweifen. Trotz der ersten Herbststürme blühte der Garten in den sattesten Rot- und Violett-Tönen. Sonnenblumen nickten mit ihren schweren Blütenköpfen und leuchteten vor dem windzerzausten Himmel. Jeder andere hätte sich am Anblick dieser Pracht erfreut, doch die Herrin all dieser Schönheit sah nur das welke Laub und die verdorrten Blütenköpfe der Sommerblumen.
Sie wollte gerade umkehren und ihren Gärtner zur Rede stellen, denn schließlich hatte er es versäumt, dem Walten des frühen Herbstes Einhalt zu gebieten. Doch dann fiel ihr Blick auf eine stattlich Pflanze mit großen herzförmigen Blättern und vielen stachligen Kugelblüten. Sie wuchs am Rande der großen Beete, an einer sonnigen Stelle unweit der alten Gartenmauer. „Was für ein hässliches Ding“, dachte sie, „wieso hat der Gärtner dieses Unkraut nicht schon längst ausgerissen?“ Ihr Unwillen stieg. Doch wie von unsichtbarer Hand geführt, ging sie näher heran, um die Pflanze genauer zu betrachten. Nun sah sie die feinen lila Kelchblätter in der Mitte der stachligen Blütenköpfe. Seltsam berührt strich die Frau über die Kelchblätter. Sie fühlten sich ganz weich und zart an. Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Werde nicht sentimental!“, schalt sie sich, „es ist nur ein dummes Unkraut!“ Plötzlich hatte sie es sehr eilig, zurück in ihr Schloss zu gelangen.
An diesem Abend war sie noch viel schweigsamer als sonst. Doch sie war weniger unwirsch. Und als einer Dienerin mit lautem Klirren eine Gabel auf den Boden fiel, wischte sie das laute Geräusch nur mit einer stummen Handbewegung fort.
Der nächste Tag war ein sonniger. Noch fegte ein harscher Wind durch die Baumkronen, doch die Sonne malte bunte Kreise auf die Gartenwege.
Als die Schlossherrin dieses Mal durch ihren Garten ging, hatte sie bereits ein Ziel, die große Pflanze an der alten Gartenmauer. Sie strich über deren weiche herzförmige Blätter, die viel größer waren als ihre Handteller. Vorsichtig berührte sie die stachligen Blüten und deren zartlila Kelchblätter. Ein winziges Lächeln huschte über das Gesicht der strengen Frau, so winzig, dass sie es selbst nicht bemerkte.
Dieses Mal hatte sie es nicht eilig in das Schloss zurückzukehren. Sie genoss den Wind und die frische Luft. Als ihr der Butler später aus dem Mantel half, nickte sie kurz. Der Butler schaute ihr verblüfft nach. Noch nie hatte seine Herrin ihm eine freundliche Geste gegönnt.
Die Zeit verging und die Frau unternahm nun jeden Tag lange Spaziergänge im Schlossgarten. Ob die frische, klare Luft ihre Wangen rötete und die Sonne ihr hartes Gesicht glättete? Ich weiß es nicht. Auffällig war nur, dass die Frau öfters lächelte. So oft, wie sonst im ganzen Jahr nicht. Man hörte sie mit ihrem Gärtner plaudern, der ihr den Namen der Pflanze mit den weichen Herzblättern verriet. Es war die „Große Klette“. „Sie blüht aber in diesem Jahr spät“, wunderte sich der Gärtner. „Aber lieber jetzt, statt nie.“
Die Dienerschaft atmete auf. Herrschte sonst eisiges Schweigen im Schloss, wurde dieses immer öfter vom Klavierspiel der Frau unterbrochen. Mit jedem Tag klangen die Melodien, die sie spielte, weicher und fröhlicher. Es konnte vorkommen, dass sie vor sich hinsummte und auch dann nicht verstummte, wenn sich einer ihrer Bediensteten näherte.
Ja, das Blatt hatte sich gewendet. Die „Große Klette“ war schon längst verblüht, die Luft roch nach Winter und Schnee und die Tage hüllten sich in ein trübes Dämmerlicht. Doch im Schloss war es hell und warm.
Zur Jahreswende lud die Frau zum Fest. Es war das erste Mal, dass im Schloss gefeiert wurde. Und die Gäste kamen gern. Es war ein wundervoller Abend. Es wurde viel gelacht und getanzt. Erst als es hell wurde, verabschiedeten sich die letzten Gäste.
Von nun an summte das Leben in den alten Schlossmauern.
Die Frau nahm sich der Sorgen und Nöte der Menschen an und hatte manch gutes Wort und manch helfende Hand für sie.
Als Ihr Mann endlich heimkehrte, hatte der Krieg ihn verändert. Der einst so stolze Mann war bescheiden geworden. Gemeinsam mit seiner Frau bewirkte er viel Gutes.
Da sie selbst kinderlos waren, richteten sie im Seitenflügel des Schlosses ein Heim für obdachlose Kinder ein. Über der Eingangshalle ließen sie ein Wappen anbringen. Es zeigte die Lieblingspflanze des Ehepaars: die „Große Klette“ mit den weichen herzförmigen Blättern.
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