Sommer im Glas
Draußen ächzten die alten Weiden unter den ersten Herbstürmen. Immer wieder zogen zottig grauer Wolken vorüber und verdüsterten den Himmel. Die Sonne drängte sich zwar immer wieder mutig durch die Wolken hindurch und trotzte ihnen. Doch nach einiger Zeit gab sie sich geschlagen und überließ den Herbstürmen den Himmel für ihre wilden Spiele.
„So ein furchtbares Wetter“, schimpfte die junge Mutter und zog ihren kleinen Sohn ungeduldig hinter sich her. Der Kleine protestierte. „Mama, nicht so schnell! Sieh doch die vielen bunten Blätter. Ich will sie fangen.“ Vergeblich versuchte er mit seiner freien Hand nach dem Laub zu haschen. „Komm schon“, drängte die Frau, die keine Lust hatte,
dem Spiel ihres Sohnes zu folgen.
Er zerrte an ihre Hand und versuchte zu entwischen. Doch die junge Frau hielt ihn nur noch fester. „Es ist kalt, außerdem habe ich noch zu tun.“ Sie sah sich schon mit einer Tasse heißem Kaffee am Tisch sitzen. Dieses nasskalte, graue Schmuddelwetter war so rein gar nichts für sie. Überhaupt, könnte es nicht immer Sommer sein? „Wenn die Sonne scheint und es warm ist, sieht die Welt viel freundlicher aus… und überhaupt“, dachte die Frau, „im Sommer geht es mir viel besser!“ Unwillkürlich schob sie die Schultern fröstelnd nach oben.
Sie mochte den Herbst nicht, den Winter schon gar nicht. Missmutig dachte sie an die langen dunklen Nächten, an die Kälte und Nässe. Je länger sie daran dachte, umso düsterer wurden ihre Gedanken. „Man müsste auswandern. Irgendwohin, wo es warm ist und hell….“
Da hatte es ihr kleiner Sohn endlich geschafft, sich loszureißen. Beherzt sprang er in eine kleine Pfütze und fischte dann ein buntes Ahornblatt aus dem schlammigen Wasser. Triumphierend hielt er es in die Höhe. Die Mutter wollte schon schimpfen, da fiel ihr Blick auf einen schlanken, grazilen Baum, dessen flammenroten Früchtedolden vor dem schmutziggrauen Himmel leuchteten. „Unglaublich! Wie schön!“ Die junge Frau lächelte.
Natürlich kannte sie diese Art von Bäumen. Wie hießen sie doch gleich? Egal, sie wusste nur, dass deren Früchte giftig waren. Und doch, die Früchte leuchteten so warm und lebensfroh, als wüssten sie nichts vom Herbst und dem nahenden Winter.
Als die Frau mit ihrem Sohn zu Hause war, stöberte sie im Bücherregal. Sie hatte vor Jahren von ihrer Mutter ein Kochbuch geschenkt bekommen: „Wildobst kennen lernen und verwerten“ Sie hatte es ohne weitere Beachtung in das Bücherregal geschoben, zu all den anderen, ziemlich unbenutzten Kochbüchern. Jetzt zog sie es hervor und blätterte darin.
Hagebutte, Holunder, Quitte… da, genau so sahen die Früchte aus. „Es sind also Vogelbeeren“, dachte die Frau und sie sind essbar. Nicht roh, aber doch essbar!“
Plötzlich hatte sie es sehr eilig. „Komm wir gehen noch einmal raus! “, sagte sie zu ihrem erstaunten Sohn und zog ihm die Gummistiefel über. „Wo wollen wir denn hin, Mama? Noch einmal einkaufen?“ „Nein, nicht ganz, aber wir holen uns ein Stück Sommer, komm! Ich zeige dir wo!“ „Ein Stück Sommer? Der kleine Sohn runzelte die Stirn und zog die Unterlippe nach vorn. „Das geht doch gar nicht!“ „Doch, doch…“, lachte die Mutter. „Du wirst es sehen.“
Wieder zog die Mutter ihren Sohn hinter sich her, doch jetzt war sie aufgeregt, lachte und fühlte sich so frisch und heiter wie lange nicht mehr. „Mama, bitte sag mir doch, wo wir den Sommer holen!“, bettelte der kleine Junge. Da blieb die Mutter plötzlich stehen und zeigte auf den leuchtend roten Vogelbeerbaum. „Hier, mein Schatz! Hier holen wir den Sommer!“
Sie nahm eine Schere aus ihrem Körbchen und schnitte behutsam eine Dolde von den Ästen. „Du kannst mir helfen, aber nicht naschen!“, warnte die junge Frau. Dann erklärte sie: „Die roten Beeren heißen Vogelbeeren. Die Vögel naschen sie gern. Aber uns Menschen machen rohe Vogelbeeren dolle Bauchweh! Aber gekocht sind sie für uns gesund.“
Die Mutter reichte ihrem Sohn die Dolde und er legte sie behutsam in das Körbchen. Bald war das Körbchen voll und sie machten sich auf den Heimweg. Der Junge sprang voran.
„Wir haben rote Beeren, die picken die Vögel und wir kochen uns Marmelade daraus…“
„Was für ein herrlicher Herbstnachmittag!“, dachte die junge Frau jetzt. „Wie schön die Wolken am Himmel aussehen, lila-, rosa-…blaugrau. Tief zog sie die frische Herbstluft ein…
„ Halt, nicht so schnell…!“schmunzelnd sah sie ihrem Sohn zu, wie er mit viel Anlauf in eine große Regenpfütze sprang und das Wasser aufspritzte. „Mama, du auch!“ Die junge Frau schüttelte den Kopf, dann aber nahm sie ihren Jungen in den Arm, drehte sich mit ihm im Kreis und gab ihn einen dicken Kuss.
Wieder daheim, wuschen sie die Beeren und zupfte sie von den Stielen.
Dann kochten sie gemeinsam Marmelade, mit Zimt, Orangenstücken, Äpfeln und süßem Honig…Das ganze Haus duftete danach. Mittlerweile war es Abend geworden und ein kalter Wind pfiff ums Haus. Die beiden aber bemerkten es nicht. Sie aßen Brot mit Vogelbeermarmelade und tranken heißen Tee dazu. Dann stöberten sie noch eine Weile in dem Kochbuch mit den vielen Wildfrüchten. „Weißt du Mama“, sagte der kleine Sohn und sprang von ihrem Schoß, „morgen holen wir uns noch ein Stück Sommer nach Hause!“
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