Vom er-WACH-sen-SEIN
Ein junges Mädchen saß am Ufer eines mächtigen Stroms und sah dem Tanzen der Wellen zu.
Es träumte davon, einmal groß zu sein, alt genug, um sein eigenes Leben zu leben.
Dieses Leben musste herrlich sein! Märchenschlösser spiegelte ihre Phantasie im Glitzern der Wellen. Fremde wundersame Länder sah sie, geheimnisvolle Orte und Menschen, die ihr freundlich zuwinkten… „Ach, wenn ich einmal groß bin dann…“, seufzte das Mädchen sehnsuchtsvoll.
In diesem Augenblick schäumten die Wellen mächtiger und die anmutige Gestalt einer Meerjungfrau fesselte den Blick des jungen Mädchens. Als würde die holde Wasserbraut die Sehnsüchte des jungen Mädchens kennen, sprach sie: „Nun mein Kind, es ist ein Leichtes, rasch groß und auch älter zu werden. Wenn du mir eine Strähne deines goldenen Haares gibt’s, werde ich dir helfen. Du wirst sehen, bald werden sich alle deine Wünsche erfüllen!“
Das Mädchen zögerte keinen Augenblick. Als die Meerjungfrau ihr eine silberne Schere in den Schoß warf, schnitt sie eine Strähne von ihrem wallenden Haar ab und gab sie der Schaumgeborenen.
Die verschwand in den Wellen und das Mädchen sprang nach Hause.
Tatsächlich schien sich das Rad der Zeit von nun an viel schneller zu drehen. Das Mädchen wurde zu einer Frau und alles regelte sich zum Besten für Sie. Was Sie auch tat, es verwandelte sich zu ihrem Wohle. Bald heiratete sie, bekam zwei hübsche Kinder und reiste mit ihrem Mann durch die Welt. Und da ihr Mann ein gutes und weites Herz hatte, konnte die junge Frau all das tun, was sie sich einst erträumte. Doch so gut es ihr auch ging, die junge Frau wurde immer schweigsamer. Bald konnte sie nichts mehr erfreuen. Was ihr Mann ihr auch zu Füßen legte, nichts berührte ihr Herz mehr so, wie einst.
Eines Tages saß sie wieder sinnend an ihrer Lieblingsstelle, am Ufer des mächtigen Stroms.
Abermals erschien die Meerjungfrau und sah die junge Frau aus schilfgrünen Augen mitfühlend an: „Ich kann machen, dass du rasch groß und auch älter wirst…“, hub sie an „aber erwachsen werden…das kannst nur du allein.“
Mit diesen Worten verschwand die Meerjungfrau wieder in den Tiefen des Stroms.
Die junge Frau kam gar nicht mehr dazu zu fragen, was es mit dem Erwachsensein auf sich hatte…
Doch in der darauf folgenden Zeit wurde sie immer nachdenklicher. Das, was ihr sonst als ganz selbstverständlich erschien, all die kleinen Liebesdienste ihres Mannes, all die Aufmerksamkeiten, die sie erhielt, die Schönheit ihres sorgenfreien Lebens….all das erfüllte sie jetzt mit großer Dankbarkeit. Sie sah dem Spiel ihrer Kinder zu, verrichtete die vielen Alltäglichkeiten aufmerksam und ohne Hast…übernahm hier und da eine Aufgabe, der sie sich sonst nicht hätte gewachsen gefühlt und das, was sie im Augenblick nicht haben konnte, erfüllte sie nicht wie sonst mit Schmerz, sondern mit einer heiteren Gelassenheit. Immer häufiger huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und nach und nach fand sie zu einer Unbeschwertheit zurück, in der Wollen und Haben nicht mehr von Bedeutung waren.
Sie tat die Dinge, die getan werden wollten und erfüllte sie mit Leben. Und da sie dies tat, erfüllte das Leben sie – ganz von allein.
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