Die Hagebutte oder im Reich der weißen Frau
Zwischen den Felsen, an einem geschützten Ort hatte der Wind gerade so viel Erde angeweht, dass ein kleines Samenkorn ein weiches Bett bekam.
Das wuchs dort und streckte sich mit allem Eifer der Sonne entgegen.
So wuchs es heran und wurde größer und größer. Bald war aus dem kleinen Pflänzchen ein Strauch geworden. Und da es Sonne, Wind und Regen gut mit ihm meinten und der Felsen ihm Schutz bot, wuchs er zu einem stattlichen Gebüsch heran.
Der Sommer bedeckte es mit unzähligen duftenden Rosen, deren zarte Blüten Bienen und Schmetterlinge anlockten.
Eines Tages, als die Sonne besonders warm schien, wanderte ein junges Mädchen auf einsamen Pfaden den Berg hinauf. Oft blieb es stehen, um sich an den Pflanzen zu erfreuen und um die herrliche Aussicht zu genießen.
So fand das Mädchen auch den Ort, an dem der wilde Rosenbusch blühte.
Sie war ganz verzaubert von der Schönheit der duftenden Blüten. Voller Freude drückte sie
die Rosenblüten an ihr Herz und erschrak! Sie hatte die starken, spitzen Dornen nicht beachtet, die die Zweige der Rose bedeckten. Verwirrt trat sie zurück. Wie konnte ihr so viel Schönheit so wehtun?
Das Mädchen stand noch lange bei dem Rosenbusch und betrachtete die wehrhaften Dornen an den Zweigen und die duftenden Blüten. Doch die wilde Rose zu berühren, wagte sie sich nicht mehr.
Das Mädchen wurde traurig, sehr traurig. Sie fühlte sich einsam und begann, sich vor dem Leben zu fürchten. Sie konnte nicht begreifen, wie die Rosenblüte so lieblich duften konnte, wo sie doch verblühen würde. Und sie konnte nicht verstehen, wie die Lerche hoch oben in den Lüften sang, wo sie doch in jedem Augenblick von einem Greifvogel gejagt werden konnte.
Und wieso jubilierte die ganze Natur, wo doch Gewalt und Schrecken, Leid und Tod in der Welt waren?
Plötzlich schreckte sie aus ihren Gedanken. Vor ihr stand eine Frau, ganz in weiße Gewänder gehüllt. Mit einer Handbewegung bat sie das junge Mädchen, ihr zu folgen. Und das Mädchen folgte ihr bereitwillig, als müsse es so sein.
Alsbald kamen sie zu einer Quelle, die zwischen moosbedeckten Steinen hervorsprudelte.
Die weiße Frau ermutigte das Mädchen aus der Quelle zu trinken. Da trank es und die Erde vor ihr war geöffnet. Das Mädchen erblickte ungeahnte Schätze. Es stieg hinab und je tiefer es in das Innere der Erde kam, desto wärmer wurde die Welt, die es nun erblicken durfte, eine Welt von erhabener Schönheit und Stille.
Staunend und ehrfürchtig wandelte das Mädchen unter der Erde und das Volk, das hier wohnte, wurde ihm zum Lehrer und Freund. Lange Zeit lebte das Mädchen so.
Doch eines Tages öffnete sich die Erde erneut für sie. Das Mädchen war nun zu einer Frau herangewachsen. Sie stieg hinauf in das Licht der Sonne, hinein in den hellen Tag.
Aber wie staunte sie! Die Welt hatte sich verändert. Dort, wo einst der wilde Rosenbusch seine unzähligen Blüten duften ließ, leuchteten jetzt flammenrote Früchte an den dornigen Zweigen. Und sie, die einst die wilden Rosen an ihr Herz gedrückt hatte, erntete jetzt die flammenroten Früchte. Da verschmolz die wilde Rose in ihrem Herzen mit der feuerroten Frucht.
Freude, Dankbarkeit und ein tiefer Friede erfüllte sie. Wo immer die junge Frau hinging, was immer sie erlebte, wie tief sie auch Trauer und Schmerz empfand, fortan spürte sie in ihrem Herzen ein nährendes und wärmendes Feuer. Ein Feuer, das immer heller leuchtete, weil sie den Mut hatte, es mit anderen zu teilen.
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